Leseprobe

Wunder in der Wüste

Die Zeit dehnt sich aus wie eine riesige Schlange. Die Schlange fokussiert ihren Blick auf einen Punkt. Der Punkt fixiert sich im Raum. Der Raum krümmt die Zeit um sich, um sie festzuhalten. Ein Augenblick dauert eine Ewigkeit. Die Ewigkeit spiegelt sich im Augenblick ab.

Der hypnotische Blick der Schlange fesselt Mojo, der Blick jenseits des Lebens und Todes zieht ihn an. Komm! Komm! Ich warte so lange auf deine Ankunft! Sag mir die Wahrheit! Zeig mir den Weg! Öffne die Tür zur anderen Seite! Tröste meine Seele! Lass mich nicht im Stich! Ich warte so lange auf deinen tödlichen Stich! „Wenn du es unbedingt willst!“, zischt die Schlange und zögernd, fast unwillig, windet sie sich im Sand, nähert sich der entgegengestreckten Hand und leckt sie langsam, zärtlich mit ihrer langen, schwarzen, gespaltenen Zunge.

Mojo schaut seine Hand an. Die Stunde der Wahrheit ist endlich eingetroffen. Es tut gar nicht weh! Ist das alles? Kommt das Ende so leise, unbemerkbar, unhörbar? Werde ich endlich von dieser endlosen Agonie gerettet? Alles ist besser, als langsam in der Wüste zu verdursten. Als er durch die Wüste gewandert war, hatte er die Gefahr unterschätzt. Durch die Schönheit der Wüste angelockt, verführt und bezaubert lief er immer tiefer und weiter ins Unbekannte. Als er merkte, dass er sich verlief, war es schon zu spät; er verlor die Orientierung, das Kamel und den ganzen Wasservorrat. Seine Zunge verwandelte sich in Holz, der Speichel in Sand. Jetzt schreit jede Zelle seines Körpers nach Wasser, alle Gedanken richten sich nur in eine Richtung: Wasser! Es ist aber kein Tropfen Wasser in Sicht! Nur der Sand und die Sonne! Die glühende Hitze strahlt vom Himmel und vom Boden aus, liegt in der Luft und in der Lunge, brennt auf seinen Kopf und schmilzt seinen Willen.

Als Regenmacher bezeichnete ihn Sheri, aber das war ein reiner Zufall. Er ist seiner Kraft bewusst, er weiß, dass er öfters wie ein Magnet wirkt und dass plötzlich um ihn mehrere Ereignisse in Zeit und Raum verknüpft werden, aber wie man diese Kraft aktiviert und steuert, weiß er immer noch nicht. Leider. Denn jetzt hätte er es mehr als je zuvor gebrauchen können. Er wird es wahrscheinlich auch nie lernen, denn das Ende nähert sich. Das Ende ist bitter, aber der Biss ist süß. Er hatte so viel vor. Zu viel. Er wollte die Erde umreisen, die ganze Menschheit umarmen, die Geschichte umfassen, die Welt retten. Jetzt ist Schluss mit Träumen, aber er ist auch die Verantwortung los. Die Belastung ist sowieso zu groß für einen Rücken, er fühlt sich endlich entlastet, erleichtert und frei.

„Also noch einer, der die Welt retten wollte ...“, ertönt eine Stimme, „... und dabei scheiterte“, fügt eine andere hinzu.
„Der Verfall ist Bestandteil aller Dinge“, sagt der dritte Mann, groß und dick, mit einem ruhigen, zufriedenen, glücklichen Gesichtsausdruck. „Man sollte sich nicht an Dinge klammern, die entstehen und vergehen.“
„Gautama, wir sind uns da alle einig, mehr oder weniger“, meint der zweite Mann, groß, kräftig und maskulin, mit einem schwarzen Vollbart. „Die Frage ist nur, ob er zum Himmel oder zur Hölle gehört.“
„Hör auf, Mohammed!“, sagt der erste Mann mit leiser Stimme. Auf seinem hageren, grazilen Gesicht wächst ein dünner Vollbart, auf die Schulter fällt langes, welliges Haar. „Der Mann ist immer noch am Leben, sein Körper quält sich noch immer! Ich wünschte, ich könnte ihm helfen!“
„Ach, Jesus, du bist immer so sentimental“, erwidert Mohammed. „Du weißt ganz genau, dass wir in die Ereignisse auf der Erde nicht mehr eingreifen dürfen! Wir haben tiefe Spuren und klare Wegweiser hinterlassen, wir können uns nicht um das Schicksal jedes einzelnen Menschen kümmern!“
„Ja, klar, du hast recht, wie immer“, sagt Jesus leise, indem er seine Hand auf die Stirn des Sterbenden auflegt. „Trotzdem, schau ihn an! Sein Gesicht ist so schön, klar und nachdenklich! Er ist ein Mann mit Vision! Außerdem hat er einen charismatischen Vollbart, genauso wie du, Mohammed“, fügt er grinsend hinzu.
„Tatsächlich!“, nickt Buddha. „Er hat ein erleuchtetes Gesicht.“
„Allerdings scheint er nicht mehr zu erwachen“, sagt Mohammed, um seinen Blick auf zwei abseits stehende Chinesen zu richten: „Was sagt ihr beide? Ihr haltet euch bei jeder Diskussion zurück!“
„Es ist nichts zu machen.“ Laotse zuckt mit den Schultern.
„Das Ende ist ein Anfang“, fügt Kungfutse knapp hinzu.
Mohammed kratzt sich ratlos hinter dem Ohr, um sich dem letzten Mann in der Reihe zuzuwenden: „Rikyu, wie wär’s mit einem Gedicht?“
Der kleine Mann aus Nippon verbeugt sich, richtet seine bebrillten Augen auf den glühenden Horizont und sagt mit einer rauen Stimme:

„Düne in der Sonne.
Eine Frau reitet auf einem Kamel –
das Geräusch des Sandes.“

„Wirklich, eine Frau?“, staunt Jesus.
„Keine Sorge, Jesus“, grinst Mohammed. „Ich kann schon mit Frauen umgehen.“ Als sich die würdevolle Reiterin nähert und grazil vom Kamel steigt, erkennt Mohammed sie wieder und grüßt sie, sich tief verbeugend: „Oh, Isis, möge deine Schönheit ewig auf der Erde strahlen!“
„Danke, mein junger Mann!“, antwortet Isis. „Was ist das für eine Versammlung? Ganz schöne Auswahl, sehe ich schon! Einige fehlen doch! Wo ist der junge Moses?“
„Hm, er fühlt sich nicht mehr jung genug für unseren täglichen Spaziergang“, sagt Jesus. „Er sitzt auf seinem Berg und versucht, aus zehn Worten ein Wort zu machen.“
„Der ist aber nie zufrieden!“, seufzt Isis. „Zuerst führte er sein ganzes Volk, lauter auserwählte Leute, aus Ägypten. Unsere zahlreichen Götter waren ihm nicht gut genug
gewesen, nur einen Gott hat er seinem Volk vorgeschrieben und seine Botschaft vermittelt. Nun sucht er schon wieder neue Wege! Ein Unruhestifter!“
„Das waren wir alle“, sagt Mohammed grinsend, „als wir jung waren.“
„Und wie geht es denn unserem Unruhestifter?“ Isis wendet sich wieder Jesus zu.
„Nicht besonders gut.“ Jesus schüttelt den Kopf. „Auf seinem Berg drängen sich jetzt lauter Touristen. Wegen des Lärms kann er die Stimme Gottes nicht hören.“
„Das kann ich sehr gut verstehen“, regt sich Isis auf. „Im ganzen Niltal habe ich keine Ruhe, in den Pyramiden noch weniger, das ist unerträglich! Ich glaube, dass es an anderen heiligen Stätten auch von Touristen wimmelt. Stört euch das etwa nicht?“
„Mich eigentlich nicht“, erwidert Buddha. „Der Bodhi-Baum ist zwar einzig, aber ich kann unter jedem Baum erwachen.“
„Verzeihung, aber ich kann den Tee überall genießen.“ Rikyu verbeugt sich tief. „Auch in der Wüste.“
„Ach, Tee in der Wüste! Wie romantisch!“ Isis klappt mit einer Hand. „Wollen wir a five o'clock tea haben?“
„Es ist mir ein Vergnügen.“ Rikyu schmunzelt in sich hinein, während er aus seinem Rucksack, wie aus einem Zauberhut, das Teezubehör herauszieht.
„Fünf Uhr ist eigentlich schon vorbei.“ Laotse wirft einen Blick auf Kungfutse. „Allerdings müssen wir nicht unbedingt Sklaven des Terminkalenders sein und uns an alle Vorschriften klammern.“

Alle setzen sich in den Kreis und beobachten Rikyu, der langsam, aber geschickt, sorgsam und liebevoll den Tee zubereitet. Die Zeremonie zieht ihre volle Aufmerksamkeit an. Rikyu strahlt Ruhe und Konzentration aus, seine Hände bewegen sich sanft und weich, als ob sie sich seit jeher und immer so bewegten, alles ist so einfach und leicht, wundervoll und zauberhaft, wie das Leben – manchmal. Durch die wiederholenden Bewegungen entsteht ein Eindruck, dass alles schon einmal erlebt wurde; gleichzeitig wird die Anwesenheit in der Gegenwart verankert. Rikyu stellt den Wasserkessel auf das Feuer und bald summt das Wasser leise im Kessel. Als das Wasser kocht, spült er die Teeschale mit heißem Wasser, öffnet die Teebüchse, nimmt mit dem Teelöffel den Tee heraus, klopft den Teelöffel ab, gießt langsam kochendes Wasser über den Tee in der Teeschale und schlägt ihn anschließend mit dem Teeschläger. Als er mit dem Teeschlagen fertig ist, gießt er die warme, sämig angerührte, grüne Flüssigkeit langsam in eine runde Teeschale und stellt sie, sich tief verbeugend, vor Kungfutse nieder. Kungfutse verneigt sich zu Rikyu gerichtet, dann zu allen anderen, als ob er sich entschuldigen möchte, dass er vor den anderen trinkt. Erst dann nimmt er die Teeschale, stellt sie auf die linke Handfläche, stützt sie mit der rechten und trinkt langsam ein paar Schlucke. Dann zieht er mit dem Zeigefinger und dem Daumen über den Rand der Schale, reinigt die Hand mit einem weißen Tuch und legt die Schale vor Isis, sich tief verbeugend. Isis verneigt sich und nachdem sie die ganze Prozedur ganz genau wiederholt hat, legt sie die Schale vor Laotse. Während die Zeremonie fortgesetzt wird, sitzen alle schweigend in ihren
beliebigen Stellungen und starren auf den Wasserkessel, der weiter leise summt. Die Gedanken sind weg, die Erinnerungen verblassen, die Zukunft ist unwichtig, alles, was zählt, ist die Herrlichkeit des Augenblicks.

Auf den Knien sitzend, sagt Rikyu leise:

„Während wir still sitzen und nichts tun,
Geht die Sonne unter und der Mond auf!“

„Genau. Der Sonnengott Re hat den Himmelsozean überquert und ist als Greis in die Unterwelt hinabgesunken. Jetzt fährt er in seiner Barke auf einem unterirdischen Fluss, um am nächsten Morgen als Junge im Osten emporzusteigen.“ Isis nickt mit dem Kopf, um dann plötzlich zu fragen: „Übrigens, wer liegt da hinten?“
„Ach, ja, wir haben ihn ganz vergessen.“ Jesus legt sein Ohr auf Mojos Brust. „Er ist noch im Leben, aber er wird nicht lange aushalten!“
„Was ist ihm passiert?“, fragt Isis.
„Ein Schlangenstich“, antwortet Jesus. „Schade für ihn. Er scheint ein Mann für große Taten zu sein!“
„Warum habt ihr mir das nicht gleich gesagt?“, regt Isis sich auf. „Re ist auf seiner Unterfahrt ständig durch die Schlange Apophis bedroht und ich habe immer ein Mittel gegen das Schlangengift dabei.“
„Das ist wunderbar!“ Jesus springt auf die Beine. „Bitte hilf ihm, mir zuliebe!“
„Das ist überflüssig“, erwidert Buddha. „Ihr werdet sein Leiden damit nicht beenden. Ihr könnt ihn nicht von den Fesseln des Karmas befreien. Er muss selber erwachen!“
„Wir müssen ihm eine Chance geben!“, erwidert Jesus. „Er erscheint auf der Erde nur einmal in diesem Körper und für das Reich im Himmel hat er immer noch Zeit!“
„Merkwürdig! Nach meinen Daten ist das eigentlich sein zweiter Tod“, sagt Rikyu, während er in einen Tablet schaut. „Dieser Mensch namens Mojo wurde schon einmal begraben! Das wäre dann sein drittes Leben!“
„Mashala! Ein außergewöhnlicher Kerl!“, sagt Mohammed. „Wollen wir ihm die dritte Chance geben? Ist er wirklich so ein guter Gläubiger?“
„Nein, ich glaube nicht, dass er ein guter Gläubiger ist“, antwortet Jesus leise. „Eher ein suchender Geist. Allerdings hat er die Kraft, faule und träge Seelen zu bewegen und zu erschüttern. Außerdem hat er viel gelitten. Er hat noch eine Chance verdient!“
„Wenn sein Herz wirklich leichter als eine Feder ist, dürfte er keine Angst vor der Totenfresserin haben, denn Osiris, mein Mann, der Totenrichter ist, würde ihn bestimmt ins Gefilde der Seligen einlassen“, meint Isis. Nach einer Pause fügt sie, in Jesu Augen blickend, hinzu: „Allerdings bin ich von deiner Passion, Jesus, überzeugt. Ich gebe ihm das Gegengift und noch eine Chance!“
Isis zieht einen Ring vom Finger, hebt den Deckel des Ringes, schüttelt das Gegengift in ihren Mund und mischte es mit der Zunge. Dann beugt sie sich über Mojo, klebt ihre
Lippen auf seine, spuckt ihm das Gegengift in den Mund, um mit ihrer Zunge seine zu bewegen und ihn zu beleben.
„Von deinen Lippen, Isis, würde ich nicht nur das Gegengift, sondern auch reines Gift trinken!“, grinst Mohammed mit funkelnden Augen.
„Hör auf! Es ist keine Zeit für Spaß!“, erwidert Isis. „Gib mir bitte lieber eine Schale Tee! Er ist halb verdurstet.“ Mohammed reicht ihr die Schale und sie gießt das Lebenselixier langsam zwischen Mojos trockene Lippen.
Mojo zuckt mit einem Bein, hustet trocken, öffnet seine Augen und staunt in Isis’ Augen: „Isis, Auge des Re! Wo bin ich? Bin ich schon im Reich der Toten?“
„Schhhhh!“, flüstert Isis. „Rede nicht! Du brauchst Ruhe!“
Als Mojo die Augen zumacht, wendet sie sich wieder den anderen zu: „Er kommt zurecht. Wir können die Bühne verlassen.“
„Wir können ihn aber nicht einfach so hier lassen!“, ruft Jesus.
„Doch“, erwidert Buddha. „Eine Karawane kommt gleich und holt ihn ab!“
„Wo ist sie? Ich sehe nichts!“ Jesus sieht sich verwirrt um.
„Ich sehe voraus“, grinst Buddha.
„Ach so! Dir muss man glauben“, sagt Jesus.
„Meine lieben Freunde!“, ruft Isis, „Ich lade euch zu einer Nilfahrt ein! Wir werden uns unter die Touristen mischen; manchmal ist es nicht schlecht, den Hauch des Lebens auf der eigenen Haut zu spüren.“
„Wir nehmen deine Einladung mit Vergnügen an!“ Mohammed verneigt sich, die anderen nicken.

Als sie sich langsam auf den Weg machen, wendet sich Jesus Mojo zu, der mit großen Augen die kleine Gruppe anstarrt: „Du wirst uns folgen, ich weiß. Allerdings musst du aufpassen, denn unsere Spuren, obwohl tief und deutlich, laufen nicht immer in dieselbe Richtung. Du musst dich für die richtige Spur entscheiden. Oder den eigenen Weg wählen. Leb wohl!“

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